Trotz Zinsschritt: Konjunkturelle Erholung ist ein zweischneidiges Schwert
Inflationstendenzen bleiben zäh. Zinsschritte helfen der Konjunktur, bergen aber Risiken. Robuste Portfolios sind gefragt.
Von Torsten Steinbrinker, CEO, und Adrian Roestel, Leiter Portfoliomanagement, Reichmuth Integrale Vermögensverwaltung AG.
Positive Konjunktursignale aus Europa und China haben in den vergangenen Wochen zu einer spürbaren Erholung der Weltwirtschaft beigetragen. Die US-Wirtschaft präsentiert sich weiterhin robust, verliert jedoch an Dynamik, insbesondere im privaten Konsum und auf dem Arbeitsmarkt. Steigende Preise bei Industriemetallen, eine anziehende Produktion, verbesserte Stimmung und steigende Gewinne deuten darauf hin, dass die Talsohle der industriellen Rezession überwunden ist. Gleichzeitig profitiert der Dienstleistungssektor nach wie vor von soliden Lohnsteigerungen, die den Konsum in den entwickelten Volkswirtschaften unterstützen. Wir sehen daher eine hohe Wahrscheinlichkeit für ein solides Weltwirtschaftswachstum im zweiten Halbjahr.
Wie wirkt die Zinswende?
Die derzeit positive Konjunkturlage ist jedoch ein zweischneidiges Schwert. Zum einen bleibt der Preisauftrieb dadurch höher als prognostiziert, was vor allem die US-Notenbank daran hindert, eine schnelle und entschlossene Zinswende einzuleiten. Erstmals seit Jahrzehnten eilen die Europäer mit einer ersten kleinen Zinssenkung voraus, obwohl die Inflationsprognose für dieses und das kommende Jahr sogar angehoben wurde. Für die Länder Europas, die sich langsam aus dem Konjunkturtief seit dem Ukrainekrieg herausarbeiten, ist diese geldpolitische Führung ein bedeutender Vorteil.
Noch ist die globale Wachstumsdynamik nicht stark genug, um die Fokussierung der Geldhüter auf die Inflationsbekämpfung zu ignorieren. Es besteht die Gefahr, dass eine zu späte und zögerliche Zinsanpassung das globale Wachstum schwächt. Unser Basisszenario geht deshalb von einer globalen Konjunkturschwäche bis hin zu einer leichten Rezession im kommenden Jahr aus.
Unsicheres Umfeld erfordert robuste Portfolios
In einem so unsicheren Umfeld ist es entscheidend, robuste Portfolios zu gestalten, die sich sowohl in positiven als auch in stürmischen Kapitalmarktlagen bewähren. Eine breite Diversifikation über verschiedene Anlageklassen, die neben traditionellen auch alternative Investments berücksichtigt, bildet dabei den Grundstein. Wir gewichten nach wie vor Aktien stärker als Anleihen, da sie bei zäher Inflation und geldpolitischer Volatilität ein attraktiveres Chancen-Risiko-Profil aufweisen.
Der Schlüssel zur Widerstandsfähigkeit eines Portfolios liegt in der Allokation und Selektion innerhalb der Anlageklassen, die sich derzeit mit den Schlagworten defensiv, opportunistisch und qualitativ hochwertig beschreiben lassen. Im Rentensegment konzentrieren wir uns auf Unternehmensanleihen mit kurzen und mittleren Laufzeiten von erstklassigen Emittenten, meiden Hochzinsanleihen und gewichten Staatspapiere geringer. Im Aktiensegment dominieren Substanzwerte aus den Sektoren Energie, Gesundheitswesen und Basiskonsum. Diese zeichnen sich durch stabile Geschäftsmodelle, moderate Verschuldung und starke Cashflows aus, sind fair bewertet, haben Nachholpotenzial und zeigen eine anziehende Ertragsdynamik.
Diese Sektorauswahl wird durch eine ausgeprägte Übergewichtung europäischer Industriewerte ergänzt. Auf Makroebene profitieren diese Unternehmen von der industriellen Erholung im frühen Stadium, auf Branchenebene von den Megatrends generative KI, Digitalisierung und zunehmender Elektrifizierung in Industrie und Transport. Sie sind Ausrüster für Datencenter, IT-Infrastruktur und Stromerzeugung und können gleichzeitig als KI-Anwender ihre Profitabilität erheblich steigern. Die Investitionskosten zur Nutzung generativer KI sind gering, sodass eine schnelle Implementierung und beträchtliche Effizienzsteigerungen möglich sind. Firmenlenker berichten über Kostensenkungen von mehr als 10 Prozent. Gleichzeitig sind europäische Industrietitel im historischen Vergleich und relativ zu ihren US-Pendants günstig bewertet und bieten attraktives Potenzial zur Gewinn- und Margensteigerung. Das verringert Abwärtsrisiken in Phasen anhaltend hoher Zinsen.