Wir brauchen mehr Köpfchen statt mehr Kupfer
Hildegard Müller, Vorstand der Innogy SE, ist eine der Schlüsselfiguren der deutschen Energiebranche. Sie ist bestens politisch vernetzt, war Staatsministerin bei Angela Merkel im Kanzleramt, führte jahrelang den Bundesverband der Energie- und Wasserwirtschaft und hat sich nun auch einen Namen als tatkräftige Managerin gemacht. Sie gilt für die Energiekonzerne als die Frau der Zukunft und denkt zuweilen schon mal voraus. Für die Börse am Sonntag analysiert sie den tiefgreifenden Wandel der Branche.
Hildegard Müller, Vorstand der Innogy SE, ist eine der Schlüsselfiguren der deutschen Energiebranche. Sie ist bestens politisch vernetzt, war Staatsministerin bei Angela Merkel im Kanzleramt, führte jahrelang den Bundesverband der Energie- und Wasserwirtschaft und hat sich nun auch einen Namen als tatkräftige Managerin gemacht. Sie gilt für die Energiekonzerne als die Frau der Zukunft und denkt zuweilen schon mal voraus. Für die Börse am Sonntag analysiert sie den tiefgreifenden Wandel der Branche.
Es ist gar nicht so lange her, da erschien uns die Energiewelt noch recht überschaubar: Strom gelangte von den großen Kraftwerken über gut ausgebaute Stromautobahnen in die Städte und Gemeinden. Anschließend sorgten die Verteilnetzbetreiber dafür, dass die Energie rund um die Uhr bei den Verbrauchern ankam. Der Strom floss immer in eine Richtung, Rolle und Aufgabe der Verteilnetzbetreiber waren über Jahrzehnte klar definiert.
Die Energiewelt ist heute eine vollkommen andere. Auf den Stromautobahnen herrscht immer häufiger Gegenverkehr, mehr als 1,6 Millionen Wind-, Photovoltaik- und Biomasseanlagen speisen ihren grünen Strom in die deutschen Verteilnetze ein, mal mehr, mal weniger, je nach Wetterlage und Tageszeit. Mehr als 300.000 Anlagen sind allein ans Verteilnetz von innogy angeschlossen. Und: Aus dem Verbraucher wird zunehmend ein Prosumer, der selbstbewusst und selbstbestimmt Energie produziert, nutzt und auch verkauft. Er speichert seinen Sonnenstrom in der Batterie im Keller, heizt sein Haus per Wärmepumpe und tankt das Elektroauto an der Ladesäule in seiner Garage auf.
Die Energiewelt von heute: dezentral, dekarbonisiert und digital
Sie ist komplex, manchmal auch kompliziert, und die Rolle der Verteilnetzbetreiber hat sich radikal gewandelt: Sie sind der Dreh- und Angelpunkt dessen, was als Stromwende begann und erst durch eine Kopplung mit den Sektoren Verkehr und Wärme zu einer echten Energiewende werden kann. Werden muss. Die Energiewende ist nur mit starken Verteilnetzbetreibern und ihren Smart Grids – ihren intelligenten Netzen – zu meistern: Hier sind 95 Prozent aller Wind- und PV-Anlagen angeschlossen, hier vollzieht sich der Ausbau der E-Mobilität mit rund 11.000 Ladepunkten in Deutschland, Tendenz stark wachsend. Die Verteilnetzbetreiber müssen immer mehr und immer dezentralere Lösungen suchen – und finden sie auch.
Moderne Energieunternehmen finden sie über den Einsatz von intelligenter IT. Der Weg in die Zukunft der Energieversorgung ist ein digitaler und er erfordert oftmals Pionierarbeit. Der Ausgleich zwischen schwankender Einspeisung und Verbrauchsspitzen auf regionaler Ebene funktioniert nur über eine Digitalisierung der Netze. Ein rein klassischer Netzausbau, der das System für sämtliche Last- und Erzeugungsspitzen befähigt, ist volkswirtschaftlich nicht sinnvoll. Erst durch intelligente Netze reduzieren wir den Bedarf an Netzausbau und senken so die Kosten der Energiewende.
Kurz: Wir brauchen mehr Köpfchen statt mehr Kupfer.
Wir müssen unser Energiesystem von Grund auf neu denken. Die Digitalisierung bringt große Datenmengen, die nahezu in Echtzeit verarbeitet werden müssen. Das erfordert eine klare Steuerungskaskade von unten nach oben. Strom soll möglichst dort verbraucht werden, wo er erzeugt wird, und Probleme da gelöst werden, wo sie entstehen – nämlich dezentral im Verteilnetz. Hier arbeiten Stadtwerke und Energieunternehmen wie innogy seit Jahrzehnten partnerschaftlich mit den Kommunen zusammen. Die Wege sind kurz, das Vertrauen ist groß. Die Stadtwerke sind fest verwurzelt in ihren Regionen. innogy ist ein verlässlicher Partner und entwickelt mit ihnen zukunftsweisende und kundenorientierte Lösungen.
Was ziemlich abstrakt klingt, ist aber auch schon zentraler Gegenstand eines seit 2017 laufenden Forschungsprojekts, das es so in der deutschen Energiebranche noch nicht gegeben hat: Designetz, ein Zusammenschluss von 46 Partnern aus Energie, Industrie, Kommunen, Forschung und Entwicklung, die gemeinsam nicht weniger als diese Frage beantworten wollen: Wie erreichen wir eine klimafreundliche, verlässliche und effiziente Energieversorgung bei einem wachsenden Anteilen an bekanntlich schwankender Stromerzeugung aus Wind und Sonne? Es ist die Schlüsselfrage der Energiewende.
Designetz wird vom Bundesministerium für Wirtschaft und Energie gefördert und erstreckt sich über die Bundesländer Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz und Saarland, die Länder begleiten das Projekt ebenfalls. Hier leben mit 22 Millionen Einwohnern mehr als ein Viertel der Bevölkerung in Deutschland. Innogy führt das Konsortium an. Vor uns liegen noch drei spannende und erkenntnisreiche Jahre. Gemeinsam mit unseren Partnern vernetzen wir dezentrale Energieerzeuger und ‐verbraucher vom ländlichen Raum bis hin zu den großen Städten und den Industrie-Ballungszentren. Wir wollen zeigen, dass eine Versorgung zu 100 Prozent auf Basis schwankender Einspeisung aus erneuerbaren Energien möglich ist. Und zwar durch den Einsatz intelligenter Netze, innovativer Speicher und abschaltbarer Lasten. All das in höchstem Maße digital.
Eine intelligente Box
Designetz soll zu einem Schaufenster der Energiewende werden, in dem ganz Deutschland und andere Länder ein Vorbild sehen. Teil von Designetz ist das Projekt „Smart Operator“, mit dem die Essener innogy und ihr Augsburger Tochterunternehmen Lechwerke prototypisch zeigen, was Energiewende für die Menschen und ihren Alltag konkret bedeuten kann. Fast drei Jahre lang wurde dieser Ansatz in drei Feldversuchen in Rheinland-Pfalz und in Bayern getestet. In dem bislang einmaligen Forschungs- und Entwicklungsprojekt haben wir ein intelligentes Stromnetz in der Praxis erprobt. Die Ergebnisse sind beeindruckend: Vorhandene Ortsnetze können durch intelligente Steuerung rund 35 Prozent mehr Strom aus lokal erzeugter, erneuerbarer Energie aufnehmen. Durch die bessere Nutzung vorhandener Netze kann ihr Ausbau reduziert werden. Mehr Köpfchen statt Kupfer also.
Der „Smart Operator“, halb so groß wie ein Schuhkarton, arbeitet als autonome Steuerungseinheit im Ortsnetz und stimmt Stromangebot und -nachfrage aufeinander ab, in dem er den Verbrauch in Zeiten mit hoher Erzeugung verschiebt. Neben intelligenter Netztechnik kamen auch über 50 intelligente Geräte in den Haushalten der Bürger zum Einsatz: Waschmaschine, Geschirrspülmaschinen, Wäschetrockner, Batteriespeicher, Wärmepumpen und Ladeboxen für Elektroautos sowie 160 Smart Meter. Dies machte das Projekt zu einer der umfassendsten Smart-Grid-Installationen überhaupt.
Der selbstständig arbeitende „Smart Operator“ verteilte Ladezeiten von Elektroautos und Batteriespeichern oder startete die intelligente Waschmaschine erst dann, wenn viel Sonnenenergie vor Ort erzeugt wurde. Anhand von Wetterprognosen konnte er vorhersagen, wie viel Strom durch die Photovoltaikanlagen eingespeist werden würde. Durch intelligente Zähler in den teilnehmenden Haushalten kannte er außerdem den voraussichtlichen Verbrauch in der Testsiedlung. Daraufhin stimmte er den Stromverbrauch intelligenter Bausteine und Speichermöglichkeiten auf die Erzeugung ab und brachte sie in Einklang.
Der Stromüberschuss wurde auf diese Weise um bis zu einem Drittel reduziert und musste demnach nicht über das regionale Mittelspannungsnetz abtransportiert werden – eine enorme Entlastung für die Netze. Das Beispiel zeigt: Forschung und Entwicklung von Smart Grids schreiten rasant voran. Allein: Noch tragen die Verteilnetzbetreiber die Verantwortung auf eigenen Schultern. An dieser Stelle ist nun die Politik gefragt.
Drei Schritte für eine erfolgreiche Energiewende
Die energiepolitischen Positionen des Koalitionsvertrages sind aus unserer Sicht positiv zu bewerten. Die Parteien haben sich auf eine Reihe wichtiger energiepolitischer Leitlinien und Maßnahmen verständigt. Erstmals erkennen CDU, CSU und SPD die Schlüsselrolle und die zunehmende Verantwortung der Verteilnetzbetreiber. Ausbau und Modernisierung der Energienetze sollen vorangetrieben und ökonomische Anreize für eine Optimierung der Netze gesetzt werden. So soll der Regulierungsrahmen weiterentwickelt werden, um Investitionen in intelligente Lösungen zu ermöglichen.
Doch das kann nur der erste Schritt sein, denn die konkrete Ausgestaltung lässt der Koalitionsvertrag noch offen. Die rechtlichen und regulatorischen Rahmenbedingungen müssen jetzt angepasst werden, damit die Energiewende an Tempo und Dynamik gewinnt. Die Regulierung muss Netzbetreibern die Möglichkeit bieten, in intelligente Technologien zu investieren. Nur so können die dringend notwendigen Innovationen umgesetzt und der klassische Netzausbau auf ein effizientes Optimum beschränkt werden.
Erstens gilt es, das Subsidiaritätsprinzip zu stärken. In einem dezentralen Stromsystem müssen auch Erzeugungsanlagen, Verbraucher und Speicher im Verteilnetz mehr Verantwortung für die Stabilität des gesamten Systems übernehmen. Der erforderliche Ausgleich zwischen Erzeugung und Verbrauch von Energie sollte, wie beschrieben, bereits auf der lokalen Ebene der Verteilnetze erfolgen. Der rechtliche Rahmen muss daher angepasst werden, um die Rollen der Stromnetzbetreiber bei der Steuerung auf den verschiedenen Spannungsebenen nach dem Subsidiaritätsprinzip zu stärken und klar zu definieren.
Zweitens müssen die politischen Rahmenbedingungen mehr Flexibilität ermöglichen. Durch die intelligente Steuerung von Einspeisung, Verbrauch und Speicherung können Stromnetze effizient betrieben und ausgebaut werden. Der Zugriff auf Flexibilitäten soll vorrangig mit Blick auf die Erfordernisse des Marktes erfolgen. Wichtig dabei: Verteilnetzbetreiber sollten auf solche Flexibilitäten netzdienlich zugreifen können, um Netzstabilität zu gewährleisten. Und: Wir brauchen angemessene Flexibilitätsanreize, die eine optimale Entscheidung zwischen Investitionen in den Netzausbau und Flexibilitätsnutzung ermöglichen.
Drittens muss die Politik Intelligenz anreizen. Für eine Digitalisierung der Verteilnetze und die Etablierung von Smart Grids sind ebenso erhebliche Investitionen erforderlich wie für den immer noch notwendigen Ausbau des Netzes. Beide Maßnahmen werden die Basis für ein effizientes und sicheres Energiesystem schaffen. Vor diesem Hintergrund muss die Investitions- und Innovationsbereitschaft der Netzbetreiber nachhaltig gestärkt werden. Sie müssen ausreichende Anreize erhalten, intelligente Technik einzusetzen, um die Kosten für Netzausbau zu optimieren und somit die Gesamtkosten für den Stromkunden zu senken. Dies ist auch ein Dienst am Gemeinwohl.
Ein Weg, Energiepreise bezahlbar zu machen
Mit einem digitalen Verteilnetz und den zeitgemäßen politischen Rahmenbedingungen wird auch eine der Mammutaufgaben zu stemmen sein, die immer schneller auf uns zukommt: der Ausbau und die Integration der E-Mobilität.
Klar ist: Selbst wenn 40 Millionen Fahrzeuge in Deutschland, also fast der gesamte aktuelle Pkw-Bestand von rund 46 Millionen, elektrisch betrieben würden, läge der Mehrbedarf an Strom lediglich bei 16 Prozent. Das könnten die vorhandenen Netze technisch verkraften. Aber: Die Herausforderung besteht darin, eine große Zahl an gleichzeitigen Ladevorgängen zu vermeiden und stattdessen das Nutzerverhalten zu koordinieren. So bietet etwa die innogy-Tochter Westnetz Besitzern von E-Autos einen kostenlosen Hausanschluss an falls sie damit einverstanden sind, dass das Unternehmen den Ladevorgang über Nacht steuern darf. Es wird geladen, wenn es für das System am günstigsten ist. Und auch für den Kunden, weil an dieser Stelle die Netzentgelte für den Ladestrom entfallen.
Aber nicht nur die Netze müssen dafür intelligenter werden, auch die Elektrofahrzeuge müssen die erforderlichen Daten austauschen. Doch leider fehlen noch klare politische Positionen zur Steuerbarkeit von E-Fahrzeugen aus netzdienlicher Sicht sowie Anreize für Kunden, sich netzdienlich zu verhalten. Ziel sollte es hier sein, ein Smart Grid zu schaffen, das durch die intelligente Verknüpfung von Daten eine Verteilung von Lastspitzen ermöglicht. Die Lösung für die Integration der wachsenden E-Mobilität liegt also im Zusammenspiel von klassischem Netzausbau und Smart Grids, in dem Produzenten und Konsumenten miteinander kommunizieren. Die Lösung liegt in einer Orchestrierung der Stromflüsse.
Die Verteilnetzbetreiber wollen das leisten, und sie können das leisten. Sie stellen sich ihrer Verantwortung, müssen aber wirtschaftlich in die Lage versetzt werden, weiterhin zu investieren: in Infrastruktur und Digitalisierung. Und sie brauchen die Stadtwerke und Kommunen als starke Partner, die ein sicheres Gespür dafür haben, was das Beste für die Regionen ist, welche energiewirtschaftlichen Maßnahmen den Menschen vor Ort wirklich helfen. Nur im engen Verbund aus Energieunternehmen, Netzbetreibern, Stadtwerken und Kommunen kann die Energiewende zum Erfolg werden.
Hildegard Müller ist seit Mai 2016 als Vorstand Netz & Infrastruktur der innogy SE tätig. Von Oktober 2008 bis Januar 2016 war sie Vorsitzende der Hauptgeschäftsführung im Bundesverband der Energie- und Wasserwirtschaft (BDEW). Zuvor bekleidete Sie das Amt einer Staatsministerin bei der Bundeskanzlerin, verantwortlich für Bund-Länder-Koordination der Bundesregierung und Bürokratieabbau, und war Mitglied des Deutschen Bundestages. Hildegard Müller begann ihre Karriere in der Finanzwirtschaft: Nach einer Ausbildung zur Bankkauffrau bei der Dresdner Bank AG und dem Studium der Betriebswirtschaftslehre an der Heinrich-Heine-Universität hatte Sie verschiedene Positionen bei der Dresdner Bank AG inne.