Höhenluft beim Dax – talwärts mit der Wirtschaft?
Die brutale Schrumpfung („Economist“) des deutschen Bruttoinlandsprodukts im zweiten Quartal gegenüber dem ersten – volle 10,1 Prozent nach den endgültigen Zahlen des Statistischen Bundesamtes – macht Ökonomen Sorgen, vielen anderen offenbar nicht.
Die brutale Schrumpfung („Economist“) des deutschen Bruttoinlandsprodukts im zweiten Quartal gegenüber dem ersten – volle 10,1 Prozent nach den endgültigen Zahlen des Statistischen Bundesamtes – macht Ökonomen Sorgen, vielen anderen offenbar nicht.
Von Reinhard Schlieker
Die deutsche Wirtschaft fiel in fast allen nennenswerten Bereichen zurück: Importe, Exporte, Maschinenbau und Industrie, Ausrüstungsinvestitionen und privater Konsum. Das Konsumklima ist dennoch gut – wahrscheinlich genießt man es zuhause, so guter Stimmung zu sein und geht, ein Glas Leitungswasser konsumierend, zeitig ins Bett.
Nun ist jede Wahrheit nur eine halbe, bis sie vollständig erzählt ist. Der Einbruch hätte weitaus schlimmer sein können, und in Frankreich, Italien oder Spanien war er es auch. In Schweden hingegen litt die Volkswirtschaft deutlich weniger: „Nur“ gut acht Prozent ging es bergab. Deutschland als Exportnation (vergleichbar mit Schweden) brachen natürlich auch Märkte weg, so dass keineswegs alles an der schlimmen Zahl hausgemacht ist. Die globalisierte Wirtschaftswelt ist bei einer Pandemie, die den einen stärker, den anderen weniger, aber insgesamt alle Akteure betrifft, sehr empfindlich. Es ist neben weltweiten Naturkatastrophen eines der wenigen Ereignisse, das kaum Entrinnen zulässt.
Die Anleger, beispielsweise am Dax-Index orientierte, haben seit den Tiefpunkten in Februar und März die Börsenkurse wieder auf fast das Vor-Corona-Niveau getrieben, wo es sich nun mit gewissen Ups and Downs wohl auskömmlich verharren lässt. Dennoch – das aktuelle Bruttoinlandsprodukt bewegt sich in etwa auf der Höhe von 2010, das Börsenlevel jedoch nicht. Was die Anleger wohl am Träumen hält, ist die Aussicht auf steigende Aktivität nach dem Ende der aktuellen Phase, also wohl schon der Blick auf 2022 und 2023. Damit sich ein positives Zukunftsbild aufrechterhalten lässt, müsste allerdings spätestens im Herbst eine Beruhigung einsetzen und die Wirtschaft wieder Fahrt aufnehmen.
Danach sah es bislang auch aus, allerdings deutet sich gerade aktuell eine Eintrübung der Stimmung an. Mit schuld daran natürlich öffentliche Untergangsprophezeiungen und alle möglichen „Warnungen“, die in etwa so stichhaltig zu begründen sind wie das Horoskop für die Weihnachtszeit. Aber eine Wirkung verfehlen diese nicht, denn auch rational orientierte Großanleger beziehen Stimmungslagen natürlich in ihre Strategien mit ein, selbst wenn sie diese nicht nachvollziehen können. Irritierend wirken dabei die Wortmeldungen aller möglichen Akteure, die zwar von zweiten, dritten oder inzwischen gar vierten (wer bietet mehr?) Wellen der Corona-Infektionen sprechen, und vor beliebigem Unbill warnen, dafür allerdings oft keine stabilen Gründe oder zumindest persönliche Fachkenntnis mitbringen: Die Pandemie ist endgültig Teil der politischen Alltagsauseinandersetzung geworden, die teils mit kriegsähnlicher Rhetorik bestritten wird, und ähnlich viel Nebel erzeugt wie ein tatsächlicher Waffengang. Die von der jeweiligen Lagerzugehörigkeit vorgeprägten Haltungen werden auf das Virusgeschehen aufgepfropft und bestätigen sich von da an im engen ideologischen Rahmen immer wieder selbst. Wenn die Märkte und die Wirtschaft in gewöhnlichen Zeiten schon zur Hälfte Psychologie sind – zu welchem Teil dann wohl jetzt?
Mit sinnvoller Eindämmung des Infektionsgeschehens hat die gegenwärtige Debattenlage in Deutschland offenbar kaum mehr etwas zu tun. Was für den Anleger die Analyse der Märkte noch schwieriger macht, denn nun müssen nicht nur die wirtschaftliche Entwicklung möglichst realistisch prognostiziert werden, sondern auch noch die ideologischen Querschüsse irgendwie eingebaut und bewertet. Auf der sicheren Seite ist ein konservativer Investor angesichts dieser Entwicklungen eigentlich nur noch, wenn er äußerst zurückhaltend agiert und vor allem nicht die nationale Anlagebrille aufbehält. Im schlimmsten Fall müsste man damit rechnen, dass das Infektionsgeschehen sich nachhaltig nicht eindämmen lässt, sondern immer wieder zulegt. Solange das in begrenztem Rahmen geschieht, also keine der genannten „Wellen“ zu beobachten ist, könnten die Auswirkungen sich mittelfristig etwa auf dem Niveau einer schweren Grippesaison einpendeln.
Wirkliche Beruhigung gäbe es aber wohl erst mit der Einführung eines breit wirksamen Impf- oder Behandlungsmittels. Da liegen Optimisten und Pessimisten naturgemäß weit auseinander. Es ist zu befürchten, dass eine verlässliche Anlageentscheidung auch in näherer Zukunft zudem durch die Auswirkungen der aktuellen wütenden ideologischen Debatte beeinflusst werden wird. Nicht schön, nicht selten, aber auch dafür fehlen Impfung und Heilmittel. Erst wenn sich eine rationale, gemäßigte und zielorientierte Politik des Umgangs mit dem Virus durchgesetzt haben wird, ist dieser Teil des Spuks wohl vorbei. Abwarten, heißt das.
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