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Recht ist Wohlstand

In den Vereinigten Staaten herrscht Demokratie – zweifellos. Aber ist es auch eine Herrschaft des Rechts? Die derzeitigen Unruhen, für den außenstehenden Beobachter ohne jedes Maß und Ziel, scheinen das Gegenteil zu offenbaren.

In den Vereinigten Staaten herrscht Demokratie – zweifellos. Aber ist es auch eine Herrschaft
des Rechts? Die derzeitigen Unruhen, für den außenstehenden Beobachter ohne jedes Maß
und Ziel, scheinen das Gegenteil zu offenbaren.

Von Reinhard Schlieker

Wenn man die politischen Extremisten, die dabei ihr Süppchen kochen, und die tatsächlichen Gewaltverbrecher außer acht lässt für einen Moment, dann offenbart sich bei vielen tatsächlich ein Bedürfnis nach Rechtssicherheit: Die für eine westliche Demokratie höflich gesagt merkwürdige Verfasstheit von Polizei und Justiz ist auch in Zeiten ohne Massenausschreitungen ein Risiko für den
Wohlstand der Nation. Der amerikanische Wirtschaftswissenschaftler Daron Acemoglu wies schon 2012 in seinem gefeierten Werk „Why Nations Fail“ schlüssig nach, dass nicht allein persönliche Befähigung, etwa von Unternehmerpersönlichkeiten, oder das Streben nach Glück – in den USA mit Verfassungsrang – wichtigste Voraussetzungen für den Erfolg eines Staatswesens sind, sondern im wesentlichen und unabdingbar: Das Funktionieren von Institutionen und die Herrschaft des Rechts.

In seiner Forschung stieß Acemoglu auf einsichtige Beispiele, darunter das einer Doppelmetropole in Texas und Mexiko. Bei gleichen geographischen Verhältnissen, Bodenbeschaffenheit oder Klima – und was sonst noch bestimmend sein mag, prosperiert El Paso in Texas, während auf der mexikanischen Seite Fluchtgedanken herrschen, Armut sich die Regentschaft mit Verzweiflung teilt und Gewalt die vorherrschende Form der Auseinandersetzung ist. Wobei man dem Vernehmen nach sich auch in El Paso über mangelnde Robustheit des Alltags nicht beklagen muss. Aber der entscheidende
Unterschied: Das Level der Rechtssicherheit ist kaum vergleichbar. Und das Ausmaß der Korruption auch nicht. Die Entscheidung eines zum Beispiel internationalen börsennotierten Ölkonzerns dürfte klar sein – und die eines modernen Unternehmens mit Bedarf an gut ausgebildeten Mitarbeitern auch, wenn es um die Frage etwa der Neuansiedlung eines Standorts in der Region geht.

Was bedeutet dies für Auseinandersetzungen auf den Straßen Amerikas? Und für den künftigen Wohlstand und das Schicksal der dortigen Unternehmen? Betrachtet man die Entwicklung des Dow-Jones-Index und noch mehr der NASDAQ, so gehen die ungemein schädlichen Auseinandersetzungen an den börsennotierten Unternehmen, zumindest nach dem Glauben der Mehrheit der Anleger, spurlos vorbei. Optimismus beherrscht das Geschäft. Ob das die Realität sein wird, könnte man – nicht nur wegen Corona - aber bezweifeln. Sicherlich sind die USA längst nicht so stark wie etwa Deutschland auf Interaktion mit dem Ausland angewiesen. Aber der inländische Konsum als tragende Säule könnte
durchaus leiden, wenn es nicht gelingt, Rechtsfrieden wiederherzustellen, und zwar ohne nur Verlierer zu schaffen. Das offenbar unreformierbare System einer gewaltorientierten Polizei, gedeckt von auf Wiederwahl spekulierenden Sheriffs und Staatsanwälten bis hin zu Gerichtsmedizinern unter politischem Druck, ist eine Wohlstandsbremse. Denn die Übergriffe auf harmlose Verkehrsteilnehmer oder Gelegenheitsdiebe in einem mitunter tödlichen Ausmaß sind ein unkalkulierbares Risiko.

Es liegt vieles im Argen mit dem Rechtssystem, mit Straßenkriminalität, regelrechten No-Go-Areas im Ausmaß halber Großstädte und als Folge immer mehr „Gated Communities“, zu deutsch am ehesten Reichenghettos. Der kommunikative Austausch erlebt Tiefpunkte – wobei dies kein amerikanisches Privileg der Zeit ist. Die US-Demokratie hat, andererseits, schon viel überstanden, hat sich mit schlimmen Macken und seltsamen Auswüchsen durch die Jahrhunderte gerettet. Was man von vielen
europäischen Ländern nicht behaupten kann. Womöglich werden die jetzigen Straßenkämpfe
viel Unheil bringen, weitere Todesopfer und Ungerechtigkeiten en masse.

Am Ende wird vielleicht eine kleinere Bewusstseinsänderung stehen, wenn auch nicht bei allen. Wer das Bild des tötenden Polizisten knieend und feixend über seinem sterbenden Opfer gesehen hat,
vergisst es nicht. Dazu fehlt es auch an Inspiration von oben: Trump ist wohl absolut kein Kennedy, aber Obama war es mit Sicherheit auch nicht, der ebenfalls die Nationalgarde gegen Protestler einsetzte. So wie die Dinge liegen, wird es vielleicht kein zweiter Sommer wie 1968 werden, die auswärtigen Probleme liegen nicht in einem verfahrenen Krieg in Ostasien, sondern eher im globalisierten Handel, die Freiheit der Person ist eine ganz andere und die Freiheit der Unternehmer und Manager auch als vor 50 Jahren, deren zahlreiche von den USA aus einen computeraffinen Weltmarkt beherrschen.

Dennoch dürften die meisten unter ihnen, von Bill Gates über Tim Cook bis Mark Zuckerberg, mit Entsetzen auf die Bilder schieren Terrors in ihrem Land blicken. Die Häme aus Richtung China gar nicht gesondert zu bewerten. Noch sind die Börsen unbeeindruckt. Wenn, und nur wenn die Großanleger recht haben, wird Amerika zurückfinden und ein Modus vivendi einkehren. Für einen Europäer
bleibt vieles dort dennoch unverständlich. Aber das gilt des öfteren für deutsche Verhältnisse
ja wohl auch.

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