Wachstumsbremse Halbleitermangel
Der Chipmangel in der deutschen Wirtschaft sorgt für noch nie erlebte Kontraste. Die Auftragsbücher sind voll und dennoch befürchten viele Unternehmen die Pleite. Der Halbleitermangel ist auch für Anleger Anlass, das eigene Portfolio zu überprüfen.
Der Chipmangel in der deutschen Wirtschaft sorgt für noch nie erlebte Kontraste. Die Auftragsbücher sind voll und dennoch befürchten viele Unternehmen die Pleite. Der Halbleitermangel ist auch für Anleger Anlass, das eigene Portfolio zu überprüfen.
Microchips: winzige Bauteile die einen riesigen Schaden verursachen können, wenn sie zur Mangelware werden. Derzeit fehlen sie branchenübergreifend: „Wenn sich die Lage nicht bald bessert, gerät ein zweistelliger Prozentsatz der Betriebe in große Schwierigkeiten“, warnt Peer-Michael Dick, Hauptgeschäftsführer des Verbands Südwestmetall, der rund 2500 Firmen in Baden-Württemberg im Blick hat. Inzwischen hat sich die Lage derart zugespitzt, dass jedes zweite Unternehmen von den Chipherstellern gar nicht mehr beliefert wird. Dick berichtet von einem Maschinenbauer, der sogar 100 Waschmaschinen aufgekauft und ausgeschlachtet hat, um an die begehrten Halbleiter für die eigene Produktion zu kommen.
Der Spezialist für Brandmeldeanlagen Hekatron im badischen Sulzburg verbaut jährlich eine Milliarde Halbleiter. Derzeit kommt jeder Dritte nicht bei der Fertigung im Dreiländereck an. „Und für die Chips, die wir bekommen, müssen wir bis zu 1000 Prozent mehr bezahlen“, klagt Geschäftsführer Michael Roth. Solche Preissteigerungen könne man nie und nimmer an die Kunden weitergeben. Hekatron versucht wie viele andere Unterhemen auch, so flexibel wie möglich zu reagieren, damit die Kunden dennoch schnellstmöglich beliefert werden. So kann passieren, dass manchmal an Wochenenden Sonderschichten gefahren werden, um dann am Montag und Dienstag wieder die Produktion anzuhalten. „Das geht nur dank der großen Solidarität unserer Mitarbeiter“; lobt Roth.
Mit Flexibilität das Schlimmste bisher verhindert
Die Folgen des Chipmangels sind weit reichend. Nur mit massivem Umplanen der Produktion konnte Hekatron in letzter Minute verhindern, dass ein neues Krankenhaus nicht wegen fehlender Brandmelder und Notrufanlagen dastand und so doch noch den Betrieb aufnehmen konnte. Beim Sensorhersteller Balluff aus Neustadt auf den Fildern bei Stuttgart sorgen fehlende Halbleiter sogar dafür, dass ausgerechnet die Unternehmen leer ausgehen, die eigentlich gerade dabei sind, neue Fertigungen für Chips aufzubauen – ein Teufelskreis. „Andere Kunden können wiederum ihre wichtigen Kunden in der Autoindustrie nicht beliefern und riskieren hohe Vertragsstrafen. Das ist dann existenzbedrohend“; verdeutlicht Geschäftsführerin Karin Stegmaier-Hermle. So eine Dimension habe sie noch nie erlebt. Eine Einschätzung, die Hekatron-Chef Roth nur bestätigen kann: Ich bin jetzt 33 Jahre im Geschäft. Das ist die schlimmste Situation, die bisher erlebt habe und wird für viele existenziell.“.
Die Margen schmelzen weg
Der Chipmangel hat weltweit einen Dominoeffekt über ganze Lieferketten ausgelöst. Das ist ein Grund warum auch die Börsianer die Entwicklung mit wachsender Nervosität verfolgen. Ob Maschinenbau, Autoindustrie oder Konsumgüter. Flächendeckend werden die Prognosen einkassiert und bescheidener in die Zukunft geschaut. In der Dezemberumfrage des Ifo-Instituts meldeten mit 91 Prozent so viele Unternehmen wie nie zuvor Produktionsbehinderungen infolge eines Materialmangels. „Viele Firmen müssen in Kurzarbeit trotz voller Auftragsbücher“, so Dick. Dabei laufen den Unternehmen die Kosten davon. Südwestmetall hat ermittelt, dass die Beschaffungs- und Herstellkosten im vergangenen Jahr im Schnitt um ein Viertel gestiegen sind. Diese Kosten können die Betriebe aber nur zu einem kleinen Teil an die Kunden weitergeben. „An eine Marge ist schon lange nicht mehr zu denken“; stellt Dick klar. Der wirtschaftliche Druck steige in vielen Unternehmen inzwischen bis zur Existenzbedrohung.
Rekordgewinne trotz stehender Bänder
Das gilt allerdings nicht für alle. Bestes Beispiel ist die Automobilindustrie, wo immer wieder ganze Fertigungslinien stillstehen, weil wichtige Bauteile fehlen. Gleichwohl melden Mercedes-Benz und BMW für 2021 glänzende Zahlen. Die Stuttgarter haben ihre Beschäftigten sogar mit 6000 Euro Sonderprämie am erfolgreichen Geschäftsjahr beteiligt. Der Grund: Die Premiumhersteller haben die Produktion der teuren Oberklasse bevorzugt. Dort sind die Margen höher und die Kunden stehen derzeit Schlange. Dafür warten viele Handwerker vergeblich aus die Auslieferung Ihrer Lieferwagen und Transporter. Für die Anleger bedeutet das: Es lohnt sich die Entwicklung der Unternehmen im eigenen Portfolio genauer zu untersuchen. Selbst in den stark betroffenen Branchen leidet nicht automatisch jede Aktie unter dem Chipmangel. Andere kommen hingegen schon auf dem Zahnfleisch daher.
Grundsätzlich kann man für 2022 schon nach wenigen Wochen feststellen, dass die Erwartungen längst nicht mehr so rosig sind, wie noch vor wenigen Monaten prognostiziert. So schlägt in Deutschland der Materialmangel zusammen mit den Folgen der Pandemie voll auf die wirtschaftliche Entwicklung durch. Im letzten Quartal 2021 ist das Bruttoinlandsprodukt um 0,7 Prozent geschrumpft. Die Lieferschwierigkeiten hätten die deutsche Industrie grob geschätzt gut zehn Prozent an Produktionseinbußen gekostet, so Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI), Siegfried Russwurm. Auch für das laufende Vierteljahr erwarten Volkswirte ein negatives Vorzeichen. Damit wäre Deutschland mitten in der Rezession, statt sich kräftig von den Folgen der Pandemie zu erholen. Für das Gesamtjahr erwartet das Ifo-Institut jetzt noch ein Wachstum von 3,7 Prozent. Im vergangenen Sommer lagen die Prognosen es noch bei mehr als fünf Prozent. Kein Wunder, das die Kurse derzeit eine Achterbahnfahrt hinlegen und den Privatanlegern beim Blick aufs Depot schon ganz flau wird.
Halbleiter bleiben knapp
Ein schneller Trendwechsel ist beim Chip-Angebot nicht in Sicht. „Wir wissen, dass Texas Instruments 50 Milliarden Stück jährlich produziert, aber mit 100 Milliarden überbucht ist“, verdeutlicht Roth die Marktlage. Durch die Pandemie hätten die Hersteller den Ausbau der Kapazitäten zurückgestellt, ergänzt Dick. „Das hat zu einem Investitionsstau von zwei bis drei Jahren geführt.“ Damit hat sich der für die Branche typische „Schweinezyklus“ umgekehrt. Normalerweise folgen auf zwei Jahre hoher Nachfrage ein Jahr des Abschwungs in dem dann in die Kapazitäten investiert wird. Das fehlt jetzt. So produziert der größte Auftragsfertiger der Welt, Taiwan Semiconductor Manufactoring Company (TSMC) auf Volllast und kann auch von Marktführer Intel keine zusätzlichen Kapazitäten übernehmen. Diese Unternehmen kommen wie auch Nvidia, AMD oder die deutsche Infineon der Nachfrage nicht mehr hinterher. Entsprechend sind die Kurse gestiegen. Die Rücksetzer der vergangenen Wochen bieten hier Anlass, einen Einstieg zu prüfen.
Insgesamt dürfte die angespannte Lage bis Anfang kommenden Jahres anhalten. „Der Chipmangel wird die deutsche Wirtschaft auch 2022 und darüber hinaus beschäftigen", glaubt beispielsweise der Präsident des Digitalverbandes Bitkom, Achim Berg. „Die Engpässe betreffen alle Arten von Halbleitern von Speicherchips über Prozessoren und Sensoren bis zu einfachen Dioden." Aufgrund der langen und unflexiblen Produktionszyklen und der komplexen Wertschöpfungsketten ließen sich dafür keine schnellen Lösungen finden. Tatsächlich sind für die Herstellung von Halbleitern oft lange Produktionsketten notwendig. Oft vergehen mehrere Wochen, bis auf einer Siliziumscheibe – sogenannte Wafer –Mikrochips für die Industrie entstanden sind.
Brüssel will mehr Eigenständigkeit
Bei Südwestmetall räumt man ein, dass die Politik kurzfristig wenig machen kann. „Man sollte aber ermöglichen, dass sich Unternehmen zusammenschließen, um so gemeinsam mit einer größeren Marktmacht mehr Chips beschaffen zu können“, erklärt Dick. Dies werde jedoch durch die geltende Kartellregelungen verhindert. Hier müsse man kurzfristig gegensteuern. Prinzipiell ist der Schuss in Brüssel schon lange gehört worden. Die EU-Kommission will beispielsweise die europäische Chipversorgung auf eigene Füße stellen. Brüssel plant unter anderem ein zweites “Important Project of Common European Interest on Microelectronics” (IPCEI). Mitte der vergangenen Dekade wurde bereits ein erstes Programm dieser Art auferlegt, an dem sich Berlin mit einer Milliarde Euro beteiligte. Hekatron-Chef Roth sieht eheblichen Nachholbedarf bei den Rahmenbedingungen für die potenziellen Investoren, die für eine neue Halbleiter-Fabrik immerhin mehr als zehn Milliarden Euro stemmen müssen. „Chipherstellung braucht eine stabile wie preisgünstige Energieversorgung. Doch wir haben die höchsten Strompreise.“
Andreas Kempf
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