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Telegram: Wie ein russischer Nomade seinen Kurznachrichten-Dienst an die Börse bringt

Der russische Mark Zuckerberg: Telegram-Chef Pawel Durow bei einer Konferenz in München 2016. FOTO: PICTURE ALLIANCE

Pawel Durow und sein soziales Netzwerk sind in Russland inzwischen unerwünscht, weil sie sich keinen Regeln unterwerfen. Aber genau dieser Freisinn ist das Erfolgsgeheimnis von Telegram, das jetzt an die Wall Street strebt.

2013 erfanden die Brüder Nikolai (43) und Pawel Durow (39) ihren ersten Messenger-Dienst, gaben ihm den Namen “Kontakt” – und machten in ihrer Heimat Russland gleich die ersten Erfahrungen, die unabhängigen Freidenkern dort blühen: Der Staatssicherheitsdienst bedrängte die Brüder, als sie sich schon damals im Sinne des jüngst in einem Straflager umgekommenen russischen Oppositionellen Alexei Nawalny engagierten und Protestlern in dessen Gefolgschaft ein Forum boten.

Aus dieser Herkunft und Geschichte der genialen Programmierer und Erfinder erklärt sich die Ausrichtung des Nachfolgedienstes Telegram, die inzwischen mit rund 800 Millionen aktiven monatlichen Nutzern vor  X (vormals Twitter) von Elon Musk (619 Millionen aktive monatliche User), aber zugleich hinter den zwei Milliarden Nutzern des  Spartenführers WhatsApp (inzwischen Teil des Meta-Konzerns von Marc Zuckerberg) liegt.

Der mitgliederstarke Messenger-Dienst ist gleichzeitig Nachrichtenplattform. Dabei geriet Telegram schon 2015 in den Ruf, eine Bühne für zwielichtige Nutzergruppen zu bieten. Damals ging es um Konten verschiedener Organisationen des „Islamischen Staats”. Zu den Anwürfen sagte Pawel Durow seinerzeit: „Ich denke, dass Privatsphäre und unser aller Recht auf Anonymität letzten Ende wichtiger ist als die Angst davor, was an bösen Dingen geschehen könnte, wie etwa Terrorismus.“ Diese Linie hat der Gründer durchgehalten, allen Anfeindungen zum Trotz – und auch Musk ist mit der Übernahme von Twitter und der Umbenennung in X darauf eingeschwenkt. Bitter-ironisch fügte Durow hinzu: „Man sollte vielleicht alle Wörter verbieten, denn die werden alle auch von Kriminellen genutzt”.

Wegen des anhaltenden Drucks der Regierungsbehörden, die ihn insbesondere wegen seiner Unterstützung für Oppositionelle wie Nawalny attackierten, hat Durow 2014 Russland verlassen. Nach seinem Abschied erfolgte eine dezentrale Organisation von Telegram, dessen reale Basis sich heute in Dubai befindet. Aber Durow ist digitaler Nomade: Weiterer Sitz sind die Britischen Jungferninseln. Der mehrfache Milliardär selbst besitzt die Staatsangehörigkeit der karibischen Inselgruppe St. Kitts und Nevis sowie Frankreichs, und die Server des Sozialen Netzwerks stehen jeweils in der Nähe starker Nutzerpools. Der für Europa eingerichtete Server befindet sich in den Niederlanden und unterliegt damit der Gesetzgebung der Europäischen Union.

Aus Nutzersicht bietet Telegram, im ständigen Wettkampf vor allem mit dem Meta-Ableger WhatsApp, inzwischen zahlreiche Features, die eine Migration auf diese Plattform attraktiv machen, etwa die Möglichkeit, private Chatgruppen einzurichten. Durow nennt sie „geheim”, nach den Erfahrungen mit der russischen Staatsmacht, und diese Chats sollen tatsächlich vollständig verschlüsselt sein. Es sind Gruppen anonymer Nutzer mit bis zu 200.000 Mitgliedern, die umfassende Möglichkeiten für Bilder, Videos, Dokumente bis hin zu verspielten Emojis bieten. Mit deren Hilfe könne Telegram „viel besser Stimmungen ausdrücken als die Wettbewerber”, heißt es vom Unternehmen selbst.

Klare Abgrenzung von den Prinzipien des Mark Zuckerberg

Das richtet sich vor allem gegen Mark Zuckerberg, der hinter WhatsApp steht und seinerseits stetig aufrüstet. Der im Bundesstaat New York geborene Zuckerberg ist nur wenige Monate älter als Durow und wie geschaffen als Reibefläche für das russische Computergenie aus dem damaligen Leningrad und heutigen Sankt Petersburg. Denn die Ansichten zur Wahrung der Privatsphäre liegen weit auseinander. Zuckerbergs Dienste erforschen das Kundenverhalten bis ins Detail, um so viel persönliche Werbung wie möglich zu verkaufen. Demgegenüber versichert Telegram: „Im Gegensatz zu anderen Kurznachrichtendiensten und Sozialen Medien sammelt Telegram keine Daten über seine Nutzer – nicht einmal Namen oder Geburtsdatum.“ Allerdings gibt es auch hier Premiumfunktionen, die eine Verifikation des Nutzers erfordern. Aber das ist freiwillig.

Ironischerweise nutzt auch die russische Regierung den Messenger-Dienst, wie eine Verlautbarung 2015 verriet. Weltweit sind zahllose Behörden und Regierungen unter den Kunden, wissenschaftliche Forschungsinstitute und Akademien, was Durow zu der Erkenntnis brachte: Statt zu zensieren und einzuschränken, befähige man die Nutzer dazu, selbst die Echtheit und Wahrheit von Beiträgen zu prüfen und zu erkennen. Dazu genüge es, solchen international angesehenen Institutionen zu folgen und deren Einschätzungen zu Rate zu ziehen. Dennoch gehören die Regierungen und gesellschaftliche Organisationen westlicher Industrieländer offenbar eher zu den Kritikern der App, ansonsten sind es vorwiegend autoritäre Regime. Die größten Feinde der Wahrheitsfindung, so der Fake-Forscher Forrest Rogers in der „Neuen Zürcher Zeitung“, seien die immanente Eile und Schnelllebigkeit des Austauschs in den sozialen Netzwerken. Dabei könne man doch in wenigen Schritten, wenn auch mit einem gewissen Zeitaufwand, selbst ermitteln, wie glaubwürdig Texte, Bilder oder Videos seien. Einer davon: „Wenn es zu abgedreht klingt, um wahr zu sein, ist es das wahrscheinlich auch nicht”, so Rogers.

Kinderporno-Seiten und Drogenhandel

Die Kritik hat aber oft einen Punkt. Denn es dauert bei Telegram länger als bei der Konkurrenz, offen rechtswidrige Inhalte und deren Urheber auszusortieren. Darunter fällt vor allem Kinderpornographie, gefolgt vom Drogenhandel, wie das deutsche Bundeskriminalamt mit einer eigenen Ermittlungseinheit für Soziale Netzwerke feststellt. Hinzu kommen vor allem amerikanische “White Supremacy”-Gruppierungen, also rassistische Organisationen von der Sorte einer “Arian Brotherhood”, Waffenfanatiker und Verschwörungshelden. Und in Deutschland rechtsextreme Urheber, wie immer wieder erforscht und schlagzeilenträchtig publiziert wird. Es gibt bislang allerdings keine belastbare Erhebung darüber, wie viele linksextremistische Gruppierungen sich Telegram zunutze machen – womöglich sind diese ebenso vorhanden, nur klüger in der Tarnung.

Für Telegram spricht in den Augen des Gründers vor allem, dass es als Basis für oppositionelle Gruppen in diktatorisch beherrschten Staaten dient, deren Machthaber sich oft nicht anders zu helfen wissen, als das Netzwerk komplett zu blockieren. Die Liste jener, die das zeitweise oder für immer bereits anwenden, spricht für sich: Es sind unter anderem China, Iran, Indonesien, und natürlich hat auch Russland sich zwischenzeitlich bemüht, Telegram zu blocken.

Ebenso will sich Telegram nicht als Zensor wissenschaftspolitischer Debatten betätigen. „Alle paar Jahrzehnte ändert sich die Sichtweise auf wichtige gesellschaftliche und wissenschaftliche Probleme drastisch. Was gestern noch eine lächerliche Idee war, kann heute die vorherrschende Meinung werden, um morgen schon wieder überholt zu sein.“ Die aktuelle Diskussion beispielsweise um die Anti-Corona-Maßnahmen der vergangenen Jahre in Europa scheint dem widerborstigen Unternehmer Recht zu geben.

Keine Angst vor Verschwörungstheorien

Pawel Durow sieht seine Strategie damit als überlegen an: „In den 20 Jahren, in denen ich Diskussionsplattformen verwalte, habe ich festgestellt, dass Verschwörungstheorien immer dann stärker werden, wenn ihr Inhalt von den Moderatoren entfernt wird. Anstatt falschen Ideen ein Ende zu setzen, macht es die Zensur oft schwieriger, sie zu bekämpfen. Deshalb wird die Verbreitung der Wahrheit immer eine effizientere Strategie sein als Zensur zu betreiben.“ Folgerichtig beschäftigt Telegram auch, verglichen mit anderen Plattformen, deutlich weniger Moderatoren, allerdings wird diese Zahl angesichts der Mitgliederzuwächse bald steigen müssen. Nur 50 Mitarbeiter zählt das Milliarden-Business bislang.

Und auch sonst dürfte sich Telegram in diesen Tagen stärker verändern als in all den Jahren zuvor. Denn Pawel Durow, inzwischen alleiniger Vorstandschef des Unternehmens, will Telegram an die Börse bringen – so sagten es zwei „Insider” der „Financial Times“. Und auf dem Parkett von Wall Street gelten eigene Erfolgsgesetze. Schon allein jener der Publizität. In einem der bislang eher seltenen Interviews sagte Durow, man strebe die Profitabilität des Unternehmens spätestens 2025 an, noch in diesem oder dem nächsten Jahr könnte ein Börsengang stattfinden; bestätigen will der Chef diesen Weg noch nicht – offenbar kommt auch ein Verkauf an Investoren in Frage. Analysten schätzen den Wert von Telegram auf derzeit 30 Milliarden Dollar, ungeachtet der fehlenden Rentabilität. Die will Durow erklärtermaßen mit Hilfe eingeführter oder kommender Premium-Funktionen erreichen. Schon jetzt machen zahlende Abonnenten einen Unterschied, hinzu kommt eingeblendete Werbung. Den demnächst stattfindenden Börsengang der Plattform Reddit, deutlich kleiner als Telegram, darf der Multimilliardär Durow als Gradmesser des Investoren-Interesses werten und analysieren.

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