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„Finger weg
vom Öl“
Eugen Weinberg, Chef-Rohstoffanalyst der Commerzbank, hält ein weltweites Ausgehen von Erdöl-Lagerkapazitäten
für ausgeschlossen, glaubt an weitere Förderkürzungen der OPEC+ und sieht das Fass Brent
Ende des Jahres bei 40 Dollar. Privatanleger aber warnt er aus einem ganz bestimmten Grund nachdrücklich
vor Wetten auf steigende Preise.
Herr Weinberg, wir ruhig war ihr
Schlaf zu Beginn dieser Woche?
Sehr unruhig, denn was zum Wochenbeginn
am Ölmarkt passiert ist, war einmalig
und historisch. Das hat weitgehende
Implikationen nicht nur für den Ölmarkt,
sondern für andere Anlageklassen.
Dass der Preis für physisches Öl negativ
sein kann, war bekannt. Dass aber auch
Anlageprodukte negativ werden können,
das war bis Montag unvorstellbar.
Und doch kam es so. Der WTIKontrakt
für Mai rutschte mit
40 Dollar ins Minus.
Man war offensichtlich unvorbereitet.
Bis Montag hätte man fast ausschließen
können, dass der Preis für eine Benchmark,
also eine Referenz-Ölsorte, die
gleichwohl für physische Lieferungen
und Finanzprodukte ausschlaggebend
ist, negativ werden kann. Dass die physischen
Ölpreise teilweise negativ sind,
wundert keinen mehr, weil man sich der
Problematik nicht ausreichender Lagerbestände
inzwischen bewusst ist. Wohin
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Eugen Weinberg
Chef-Rohstoffanalyst
der Commerzbank
mit dem Zeug, wenn man nicht lagern kann und ständig noch
mehr davon produziert? Doch der WTI-Handel ist schon deshalb
besonders, weil es mehrere Kontrakte darauf gibt. Der
Terminhandel an der NYMEX hat einen Bezug zum physischen
Markt, die anderen werden in Bar ausgeglichen. Und da waren
wohl einige Broker, Händler, Investoren und Börsen selbst unvorbereitet
und konnten nicht rechtzeitig die Systeme an die
neue Gegenwart negativer Preise anpassen.
Entsprechend mussten sich am nächsten Tag einige
Anleger über negative Kontostände oder negative
Preise für ihre Anlageprodukte wundern…
Ja, und das Debakel wurde wohl durch Handelsalgorithmen
verstärkt. Plötzlich gab es nur noch Verkaufsorder und viele Positionen
wurden zwangsliquidiert. Das Ausmaß des Abverkaufs
wurde durch das zu diesem Zeitpunkt dünne Handelsvolumen
enorm. Man muss berücksichtigen, dass der sogenannte Settlement,
also der Zeitraum für den Schlusskurs, nur zwei Minuten
betrug. Die Preise hätten wohl auch auf Minus 100 Dollar gehen
können. Mit dem physischen Markt hatte das Geschehen
letztendlich wenig zu tun. Der Mai-Kontrakt für WTI, der am
Montag teilweise unter Minus 40 US-Dollar notierte, ist erst
am nächsten Tag bei über Plus zehn Dollar je Barrel aus dem
Handel herausgegangen. Das war dann letztendlich der Preis
für etwaige physische Lieferungen, wenn ein Händler diesen
Kontrakt über die Fälligkeit gehalten hätte.
BÖRSE am Sonntag · 17/20